Die Band(e) aus Leipzigs "Wildem Westen"

Chemie Leipzig - der Meister 1951


Das Foto ist fast 40 Jahre alt und schon ein wenig vergilbt. Es ist das Bild einer Fußballmannschaft. Nichts deute darauf hin, daß es sch um ein besonders Bild handelt - keine Trophäe, keine Blumen, kein Siegesjubel - eine Mannschaft vor leeren Rängen. Es ist das Foto der Meisterelf des Jahres 1951, Chemie Leipzig, aufgenommen knapp eine Stunde nach jenem denkwürdigen Entscheidungsspiel im Chemnitzer Stadion,als Turbine Erfurt mit 2:0 Toren bezwungen worden war. Es ist eine Erinnerung an 21 Männer, die diesen Erfolg erstrebten und erreichten.

Die Chemie-Elf hatte an diesem Tag das Fußballstarke Sachsen würdig vertreten und die aufkommende Konkurenz aus der Blumenstadt Thüringens in die Schranken verwiesen. Sie war in die die Fußstapfen der spielkulturell besten Mannschaft der Ostzone, der SG Dresden-Friedrichstadt getreten, die ein Jahr vorher fast geschlossen das Land in Richtung Westen verlassen hatte, und es war ihr gelungen, mit diesem erfolg die Vorherschaft der Fußball-Hochburg Zwickau-Planitz zu beenden.

Der Fußballruhm der Messestadt Leipzig, deren Anlitz noch immer Ruinen prägten und die sich langsam aufzurappeln begann, hatte neuen Glanz erhalten - die drei Meistertitel des alten, ruhmreichen VfB lagen lange zurück und waren fast schon in Vergessenheit geraten.

Die meisten Chemiespieler hatten Kriegs- und Nachkriegszeit bewußt erlebt. Sie waren mit der Auflösung und dem Verbot der ihnen vertrauten Sportvereine konfrontiert worden, hatten die Zerspliterung der Kräfte im kommunalen, kreisgebundenen Sport erfahren, hatten mit ansehen müssen, daß schwerwiegende Fehler bei der Suche nach neuen Organisationsformen die raschere Entwicklung des Fußballsportes in den Nachkriegsjahren behinderten. Familienväter die meisten, wollten zupacken, wiedergutmachen. Sie vertrauten darauf, daß der eingeschlagene Weg richtig sein würde. Wenn alte Traditionen nicht wieder belebt werden konnten, dann mußten neue her.

Und solche Traditionen zu begründen, dazu war diese spiel- und kampfstarke Mannschaft wie geschaffen. In zwei Jahren hatte sie die Herzen der Zuschauer fast im Sturm erobert. Der Georg-Schwarz-Sportpark draußen im ,Wilden Westen´ der Messestadt war dafür der richtige Nährboden. Dahin zog es die Fußballanhänger, dort wuchsen die Talente auf.

Mit dem Sieg von Chemnitz war Chemie Leipzig die Mannschaft der Stunde. Ihr schienen die Zukunft zu gehören.

Niemand ahnte damals, daß die Tage dieser beliebten Mannschaft schon gezählt waren. 

In der Mammut-Liga vorn

1948/49 wurde in Leipzig eine Mammut-Liga gegründet. Ihr gehörten 25 Gemeinschaften an, die in einer einfachen Punktspielrunde den Meister ermittelten. Die SG Leutzsch behaupzete sich gegen starke Konkurrenten, wurde zum Sammelbecken erstklassiger Spieler und nahm noch im selben Jahr als ZSG Industrie Leipzig an der packenden Sachsenmeisterschaft teil, die nach Siegen der Leipziger über Zittau, Planitz und Meesane zum Punktgleichstand dreier Mannschaften (Friedrichstadt, Meerane und Leipzig) und zu einem Finalturnier führte.

Schließlich setzten sich die Dresdner (noch mit Helmut Schön und Richard Hofmann antretend) in den Entscheidungsspielen durch. Die ZSG Industrie aber hatte sich einen Platz in der Ostzonen-Liga erkämpft, die fortan als höchste Spielklasse den DDR-Meister ermittelte. Die Leipziger belegten in der ersten Saison den 8. Platz und nutzten die Mittelfeldposition, um in aller Stille den Konzentrations- und Verjüngungsprozeß fortzuführen.

Zu den Stammspielern Brembach (er wurde als einziger in allen 25 Spielen eingesetzt), Rose, Busch, sommer, Fröhlich, Richter, Polland, Pönnert, Steuer und Hübler (mit 13 Treffern Torjäger der Leutzscher) kamen im Laufe der Saison Werner Eilitz aus Stötteritz, Georg Zenker aus Böhlitz-Ehrenberg und Rolf Gruß von Union Leipzig hinzu. Wenig später fanden die Studenten Rudolf Krause (aus Probstheida), Horst Scherbaum und Gehard Helbig (aus Plauen) den Weg in den Georg-Schwarz-Sportpark.

Zwar ging der Mannschaft von Trainer Fritz Kraus, einst wuchtiger Mittelstürmer von Wacker Leipzig und mehrfach in der Stadtelf und sachsen-Auswahl eingesetzt, gegen Ende der Spielzeit ein wenig die Puste aus, blieb sie vom 20. bis zum 25. Spieltag sieglos, aber man sah doch im Georg-Schwarz-Sportpark, der zu den Spieltagen im Durchschnitt von 14.000 Zuschauern besucht wurde, recht optimistisch in die Zukunft.

Das Fludium von Leutzsch

So wuchs die Mannschaft fast "über Nacht" zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Das mag vor allem auch daran gelegen haben, daß das Umfeld stimmte. Der Georg-Schwarz-Sportpark war schon damals ein Fußballstadion mit Atmosphäre - die Zuschauer erlebten das Geschehen hautnah. Plötzlich stand dort auch eine Tribüne - sie war kurzerhand, ehe es noch jemand verhindern konnte, von der ehemaligen Regattastrecke am Elsterflutbecken nach Leutzsch "verlagert" worden.

"Atmosphäre" herschte auch im Chemie-Casino. Bei Familie Stolze, den Wirtsleuten, gab´s immer was Gutes zu essen, das gepflegte Bier schätzten nicht nur die Fußballanhänger, die sich nach Trainings- und Spielschluß mit den Spielern ein Stelldichein gaben.

Wenn es an´s Feiern ging, und dazu ergaben sich immer wieder Gelegenheiten, stand die Chemie-Band im Mittelpunkt: "Gag" Helbig (Gitarre), Günter Busch (Akkordeon) und Rudi Krause (Baß). Es zählte zu den Höhepunkten ihrer Auftritte, wenn "Oskar" Brembach zu vorgerückter Stunde den Geigenbogen ergriff und sich bei seinen Soli selbst übertraf. Ein Jahr Geigenuntericht in Jugendtagen bot ihm dafür die Grundlage und sicherte ihn den Beifall des Chemie-Anhangs und seiner Mannschaftskameraden.

Vor wichtigen Spielen bezog man in Ammelshain, vor den Toren der Stadt, beim wirt vom "Weißen Roß", der ein gastfreundliches Haus führte, Quartier. Hier konnte sich die Truppe ungestört vorbereiten und Spielfreude tanken.

Der Wirt gehörte zu einen Kreis von "Gönnern", die es sich gern etwas kosten ließen, mit der Mannschaft zu reisen oder zu feiern. Nicht alle, die sich für die Mannschaft verantwortlich fühlten, sahen das gern, galten solche Kontakte doch als überholte bürgerliche Verhaltensweisen.

Eines Tages präsentierte ein "Verehrer" Schlafanzüge, eine willkommene Gelegenheit für ein Mordsgaudi. Die Nachtmodenschau endete mit einer moralischen Standpauke.

In finanzieller Hinsicht waren die Spieler nicht gerade auf Rosen gebettet. Hermann Funk, Betriebsdirektor von Lacke und Farben Leipzig-Leutzsch, hatte einen Großteil der Mannschaft im Trägerbetrieb untergebracht. Ihre Gehälter unterschieden sich nicht von denen ihrer Kollegen, die nicht in der Oberligaelf standen. "Neid" konnte da nicht aufkommen.

Und Kassierer Heinz Umbreit erfüllte strikt die damals geltenden Festlegungen der Sektion Fußball des Deutschen Sportausschusses. Er zahlte an jedem Spieltag, gleich ob zehn- oder zwanzigtausend Zuschauer die Stadiontore passierten, 5,- Mark aus. So hoffte jeder auf bessere Zeiten, aber der Zusammenhalt der Mannschaft litt nicht darunter.

Überhaubt, es wurde viel gelacht bei Chemie. Wenn Masseur Oskar Clauß, er hatte noch bei den Halberstädtern Gardekürassierer gedient, seine Anekdoten zum Besten gab, stieg der Stimmungpegel. Die schönsten handelten von den Halberstädterinnen und ihren Einfällen, die begehrten Würstchen aus der Fabrik zu schmuggeln, um die ewig hungrigen Gardesoldaten satt zu bekommen.

In Leutzsch herrschte jedensfalls vor der Saison 1950/1951 eine gute Stimmung. Daran änderte auch der Trainerwechsel nichts. Fritz Krauß ging. Rolf Kukowitsch kam. In Training zeigte sich rasch, daß die Alten mit den Neuen gut harmonierten, daß sich für die einzelnen Mannschaftsteile fast auf Anhieb Idealbesetzungen anboten.

Als im Spätsommer 1950 18 Mannschaften den Titelkampf aufnahmen, war Chemie gut gerüstet. Ins Rennen gingen auch sieben Neulinge: Rotation Dresden, Turbine Weimar, Stahl Thale und die Berliner Gemeinschaften Union Oberschöneweide, VfB Pankow sowie Lichtenberg 47.

Mit dem Start zur Spitze

Die Leutzscher erwischten einen guten Start, waren am 4. Spieltag bereits Tabellenführer. Die Mischung aus Technkern und Kämpfern bewährte sich. Neun Spieltage bleibt die Elf ungeschlagen. Das fast 100jährige Schlußdreieck ist nur schwer zu überwinden. Der junge fangsichere Torwart Günter Busch und die beiden fast 40jährigen Haudegen Walter Rose und Werner Brembach harmonieren prächtig und werden zu Idolen der Leipziger Fußballjugend. Was der "Buschner" verfehlte, holte Brembach noch von der Linie, und der glänzende Taktiker Walter Rose war zudem ob seiner Frei- und Strafstößen geführchtet. Sie gaben der Mannschaft Sicherheit. Im Verein mit dem schnellen, zweikampfstarken Werner Eilitz bildet die Abwehr ein starkes Bollwerk. So konnte sich der feine Techniker Gerhard Polland mit genauen Pässen der Offensive widmen, der zähe Kämpfer Horst Scherbaum war hinten und vorn zu finden. Sie bildeten mit den Halbstürmern Heinz Fröhlich, trickreich und torgefährlich, und Rudi Krause, Denker und Lenker des Angriffs  und mit insgesamt 14 Treffern Torjäger der Mannschaft, ein homogenes Quartett in Mittelfeld. Die schnellen, gewitzt aufspielenden Flügelstürmer Gerhard Helbig und Rolf Grupe konnten Tore vorbereiten und Tore ertzielen. Georg Zenker, der Mittelstürmer, eminent fleißig, ausdauernd, öffnete für seine Nebenleute immer wieder Räume, schufen Torchancen. Eine annschaft, in der jeder wußte, was er tun hat.

Aber die Mitfavoriten, Motor Zwickau und Turbine Erfurt, ließen nicht locker. Erfurt holte in Leipzig beide Punkte. Zwickau erreichte ein Unentschieden. Das 2:2 gegen den Meister des Vorjahres endete mit einem Tumult. Tausende stürmten nach dem Schlußpfiff auf das Spielfeld. Wenige Minuten vorher hatte eine Woge von Chemie-Spielern nach einem Rose-Freistoß den in den Torraum segelden Ball mitsamt den Zwickauer Schlußmann Otto ins Tor gespült. Platzsperre für die Leipziger, Spielsperren für die Zwickauer waren die Folge.

Zur Winterpause der Saison lag Chemie auf dem dritten Platz mit zwei Punkten Rückstand zum Spitzenreiter Motor Zwickau, punktgleich mit Turbine Erfurt.

Dann aber gerieten die Zwickauer in eine Kriese, vier Niederlagen lassen sie aussichtslos zurückgefallen. Chemie zog davon. Und als die Leutzscher sich gar vor 50.000 Zuschauern in Erfurt mit 2:1 Toren durchsetzen, Fröhlich und Grupe die Treffer erzielen, führte Chemie zwei Spieltage vor Schluß der Meisterschaft mit drei Punkten Vorsprung. Selbst ist die großten Skeptiker zweifeln nun nicht mehr daran, dß Chemie zu Hause gegen Altenburg und in Babelsberg die Entscheidung zu seinen Gunsten herbeiführen wird.

Dramatische Zustimmung

  In der Musikalischen Komödie, bei "Orpheus in der Unterwelt", suchte die Chemie-Elf vor dem Spiel gegen die Skatstädter Abwechslung und Zerstreuung. Gar nicht operettenhaft gingen die Altenburger am nächsten Tag im Georg-Schwarz-Sportpark zur Sache. Sie setzten auf die Trumpfkarte Kampfgeist. Günter Busch konnte fast 90 Minuten lang untätig zusehen, wie seeine Stürmer Mal um Mal am Altenburger Torwart scheiterten. In der zweiteen Halbzeit tauchten die Altenburger nur drei- bis viermal vor seinem Gehäuse auf. Ihr Linksaußen Seyfahrt nutzte einen dieser Konterangriffe zum siegbringenden Treffer.

Nun mußte Chemie den schweren Weg nach Babelsberg antreten. Ein Punkt aber sollte wohl zu erreichen sein. Gut versteckt vor der Mannschaft ging der Meisterschaftskranz mit auf die eise in die Fillmsstaddt. Die Babelsberger spielten und kämpften, als gelte es für sie, selbst den Titel zu erobern. Hannes Schöne, ihr Torschützenkönig, entzog sich immer wieder den Zugriff von Eilitz. Ungedeckt konnte er seine geführchteten Scharfschüsse abgeben, traf zweimal, aus 16 un 18 m Entfernung. Es half nichts, daß Rose und Grupe den Ausgleich herstellen. Schuster erzielte kurz vor Schluß das siegbringende Kopfballtor. Chemie ging mit fliegenden Fahnen unter. Die Blumen am Meisterschaftskranz ließen wie die Chemiespieler trauig die Köpfe hängen.

Entscheidung vor 60.000 Zuschauern

Turbine Erfurt und Chemie Leipzig standen nun am Ende einer kräftezehrenden Saison nach Punkten glleichauf: 50:18! Das Torverhältnis zählte damals nicht - in Chemnitz kam es zum Entscheidungsspiel. Vor 59.000 Zuschauern wurde der Meister 1950/51 ermittelt.

Erfurt muß auf die verletzten Nordhaus und Brock verzichten. "Jule" Hammer, der trickreiche Halbstürmer scheidet nach 12 Spielminuten verletzt aus. Aber die Thüringer schienen das dreifache Handikap gut zu verkraften, griffen an, spielen mehrere Chancen heraus. Erst in der zweiten Halbzeit erreichte Chemie ein spielerisches Übergewicht. Der rechte Flügel Krause-Helbig setzte sich immer besser in Szene. Er entschied schließlich auch das Spiel. "Gag" Helbig verwandelte kurzentschlossen aus der Drehung eine Maßflanke Krauses zum 1:0, und Krause markierte mit einem 18 m-Schuß das 2:0. Als Schiedsrichter Liebschner aus Weißenfels abpfiff, sind die Leipziger Meister und überglücklich, voran Busch, Fröhlich und Scherbaum, die in allen 34 Punktspielen dieser Saison zum Einsatz kamen.

Große Träume platzten

In der Chefetage von Chemie wurde nach dem Titelgewinn die Hände nicht in den Schoß gelegt. Man schmiedete Pläne, wollte die erreichte Spitzenposition festigten. Namhafte Gegner wurden zu Freundschaftsspielen verpflichtet, eine Auslandsreise vorbereitet. Im Georg-Schwarz-Sportpark tauchten junge talentierte Spieler auf, die Mannschaft sollte weiter verjüngt und verstärkt werden. Die eigene Nachwuchsarbeit begann Früchte zu tragen. Bei Hollenkamp, dem ersten Schneider-Atelier in der Messestadt, wurden ein Maßanzug für die Chemie-Elf in Auftrag gegeben. Aber es blieb ihr nur noch wenig mehr als eine Spielzeit, dann zerstören drastische Eingriffe einer ungeduldigen DDR-Sportführung alle großen Pläne, drängt die erpresserische Abwehrbung von acht Mitgliedern der Mannschaft zur Elf der kasernierten Volkspolizei die Gemeinschaft von Chemie Leipzig führ Jahrzehnte in eine Märtyrerrolle. Der Chemie-Geist wurde geboren. Nur über das "Trotzdem" und "Nun erst recht" blieb Chemie Leipzig, das quasi über Nacht eine neue Mannschaft formieren mußte, bis zur Auflösung im Jahre 1954, als mit den Chemiespielern die Gründung des SC Lok erfolgte, weiter eine Spitzenmannschaft der Oberliga.

Zehntausende stärkten der Mannschaft den Rücken und äußerten damit ihren Protest gegen ein System, dessen selbstherrliche Funktionäre den Fußballsport im Osten Deutschlands großen Schaden zufügten. Sie machten mitt ihren Manipulationen auch vor einer Mannschaft nicht Halt, die prädestiniert schienen, zu einem Aushängeschield des DDR-Fußballs zu werden.

Rainer Baumann

aus Sparwasser und Mauerblümchen (1991)